Der Aufbruch

Seit ewigen Zeiten leben Kreaturen wie die Gha`Rukh nahezu überall auf allen Welten Magiras. Kaum ein Landstrich, der noch nicht von einem grünen Fuß betreten wurde - von den lebensfeindlichen Wüsten Esrans bis hin zu den dampfenden Dschungeln Ranabars oder den unwirtlichen Hochgebirgen Agenirons. Ihr Lebensraum erstreckt sich dort, wo keine Menschen sesshaft sind, diese sind jedoch beinahe überall. So leben Gha`Rukh nur in den unwirtlichsten Gegenden, den tiefen Wäldern und den unzugänglichen Gebirgsregionen. Dabei sind die einzelnen Stämme oder Siedlungsbereiche so weit voneinander entfernt, dass kein auch nur irgendwie gearteter Austausch zwischen ihnen gegeben ist. Den meisten Stämmen ist es noch nicht einmal bewusst, dass es viele weitere ihrer Art, wenn auch weitverstreut, auf Magira gibt.

Einige Gha`Rukh leben noch immer unter der Knechtschaft von Mächten, die ihre Art als Kriegsknechte verwenden. Diese unfreien Gha`Rukh haben sich innerhalb vieler Generationen weit von ihren freien Brüdern entfernt und haben nur mehr wenig mit ihnen gemeinsam. Von diesen Sklaven wird hier nicht weiter berichtet.

Der Stamm der Toa-Nakai, um den es im weiteren geht, lebt im Nor Albyons in einer Berggegend, bei den Menschen als Offa-Gebirge bekannt.

„Wenn eine Horde Gha`Rukh über das Land hereinbricht, lässt sie wenig mehr als Zerstörung und Vernichtung auf ihrem Pfad zurück. Häuser werden niedergebrannt oder zum Plündern aufgebrochen, das Korn zertrampelt, Vorratskammern leergefressen und Flüsse in schlammige Kloaken verwandelt. Die Größe der Horde  und ihre zerstörerische Natur zwingt sie zu ständiger Bewegung, immer auf der Suche nach weiteren Beutegründen.
Nach einem Sieg mästen sich die Gha`Rukh für Tage am Fleisch der Gefallenen, und was sie nicht verwerten können, schichten sie zu großen Haufen mit unbrauchbaren Waffen und Rüstungen sowie anderem Plunder zu Ehren ihrer barbarischen Götter auf.
Auf dem Marsch hinterlässt eine solche Horde inmitten der allgemeinen Zerstörung mehr als genug Hinweise auf ihrem Weg. Gefolterte und ermordete Gefangene prangen festgenagelt an Bäumen oder werden bis zum Kopf begraben an vielbefahrenen Kreuzungen zurückgelassen als grausige Erinnerung an die Fürsorge der Gha`Rukh. Wenn sie ihr Lager aufschlagen, heben sie gewaltige Röstgruben aus, in welche sie ganze Viehkadaver oder auch mitunter menschliche Gefangene werfen. Beim Verlassen des Lagers häufen sie die Abfälle und den angefallenen eigenen Dung zu einem großen Berg auf, dem sie die grobe Form einer ihrer Gottheiten verpassen...“
Ja, Gronka hatte wieder geträumt. Seit Wochen hatte er sich nicht mehr ordentlich den Wanst vollgeschlagen, und der neuerliche Versuch eines Kriegszugs gegen die nahegelegenen schwach verteidigten Siedlungen der Rosas war ein mittleres Fiasko gewesen. Als wären sie erwartet worden, trafen sie auf wohl vorbeitete Gegenwehr. Kriegszüge der Gha`Rukh gehören für die Rosas dieser Gegend zum alltäglichen Tagesgeschehen, sodass sie damit leicht fertig werden konnten. Es war kaum Zeit zu plündern, bevor sie sich wieder auf dem Weg in das Gebirge machen mussten, um dem Gegenangriff zu entgehen. Was war die Beute? Viel zu wenig für so viele hungrige Mäuler. Wenig Vieh und einiges an Plunder - dafür hatte sein Stamm einen viel zu hohen Preis gezahlt, einige Dutzend Grotze blieben dafür erschlagen im Tal zurück. Gronka stöberte in eben diesem Plunder, nahm verschiedenste Dinge und warf sie hinter sich. In einen kleinen Ledersack steckte er seine klauenbewehrte Hand und roch an braunem Zeug, das klebrig an seinen Fingern hing. Es roch nach Fleisch und Dingen, die er nicht kannte. Ohne zu Zögern leckte er die Klauen ab und stopfte den Rest des Beutelinhaltes in sein hungriges Maul. Augenblicke später kippte er um und schlug hart am Boden auf. Für die Gha`Rukh, die dies sahen, war das ein ungewöhnlicher Anblick. „Da Boss“ am Rücken liegend mit weit geöffneten Augen und Schaum vor dem Mund…

Noch ungewöhnlicher war allerdings das, was Gronka in diesen Augenblicken erlebte. Sein Geist entfernte sich von seinem Körper, verließ die tiefe Höhle im Offa-Gebirge und schwebte immer weiter in die Höhe. Da der Geduldsfaden eines Gha`Rukh kürzer ist als der Daumen eines Stumpenz, war Gronka mehr als gereizt, als sein Geist endlich landete…
Zornig und verwirrt zugleich brüllte er, und es wunderte ihn nicht, dass sein Geist zum Brüllen in der Lage war. Um ihn herum ein Land wie aus seinen Träumen. Eine geschändete Landschaft, in der Feuer loderten und es nach Schweiß, Eisen und Blut roch (er wunderte sich auch nicht darüber, dass er riechen konnte). So weit er blickte, befanden sich um ihn herum eine Vielzahl von Gha`Rukh, die hier ein herrliches Leben führten, sich alle entweder gegenseitig bekriegten oder an riesigen Röstgruben frassen. Als er sich ihnen näherte, rechnete er jeden Augenblick damit, auch angegriffen zu werden, aber vielleicht waren es die knisternden Blitze, die von seinen Gliedmassen zum Boden zuckten, oder auch der seltsame Schwefelgeruch, der ihn umgab. Alle wichen ihm aus. Gronka war überrascht, wie viele Gha`Rukh sich an diesem Ort befanden, und wie unterschiedlich sie aussahen. Manche halbnackt und bemalt, andere in schwerem Eisen. Dabei die unterschiedlichsten Grüntöne als Hautfarben. Die wenigsten von ihnen erinnerten ihn auch nur entfernt an die Mitglieder seines Stammes. Ihm wurde klar, dass er „dat grosse Grün“ erreicht haben musste, dass sagenumwobene Reich der Toten. Nachzusinnen war allerdings keine besondere Stärke Gronkas, und so beschloss er, sich lieber umgehend den Wanst an den Röstgruben vollzuschlagen.
Wiederum wichen die anderen Gha`Rukh ihm aus, und so nahm er sich, was er brauchte. Mitten während seines Gelages näherte sich ihm eine auffällige Gestalt. Gebückt und an an einem großen Knochen gehend, den er als Stock nutzte, ging er zielstrebig auf ihn zu. Wort- und grußlos setzte er sich neben den noch immer fressenden Gronka.
„Bist´n ändlich dar!“ sprach der Alte mit schnarrender Stimme.
„Häh…“
„Hat lang gedaurt mit dir.“
Gronka legte den Batzen undefinierten Fleisches aus den Klauen und betrachtete den Neuankömmling etwas verwirrt genauer. Er war alt, sein Gesicht von tiefen Furchen gezeichnet und verwittert. Da Gronka alles andere als klar war, was der Alte von ihm wollte, wünschte er eine genaue Erklärung:
„Wat wilssten Alta?“
„Gewartät hama auf dich!“ sprach dieser, „lange… siehsten nich die vielen Gha`Rukh. Ärst hier kommen allä zusammen und dat is falsch! Gronka, die Götters ham für dich ne wichtigä Aufgabe bästimmt. Du bringst zusammän was zusammän gehört – die Stämme. Die Menschendings, diese Rosas ham vial zu vial un mir sin mehr als wir allä glauben.“
Gronka hörte den Alten zwar sprechen, verstand aber den Sinn der Worte nicht.
„Äs is deinä Aufgabä, die Zait der Gha`Rukh anbrächn zu lassn. Weg mit den Rosas, värein die Stämme. Hier nimm, wirste brauchn.“
Mit diesen Worten reichte er Gronka eine Streitaxt, die er unter seinem zerschlissenen, langen Umhang getragen hatte.
„…un nochn Geschänk!“ Er kramte in einem Lederbeutel eine klebrige Masse hervor und hielt sie Gronka mit seinen Klauen direkt vor sein Antlitz.
„Wasndasn?“
„Dasn is etwas, was du brauchn wirst. Dasn is Dung der Götter -  es gibt dir dän Vastand zu tun was zu tun is.“
Und mit diesen Worten und einer schnellen Bewegung, die man dem Alten gar nicht zugetraut hätte, pappte er den Dung direkt auf Gronkas Schädel und verrieb ihn. In diesem Augenblick veränderte sich etwas und Gronkas Geist erwachte wie aus einem langen Schlaf.
Als er in der Höhle aufwachte, waren nur Augenblicke vergangen, sein Schädel schmerzte vom harten Sturz. War das nur ein Traum gewesen? Schon war er drauf und dran, ein paar Schädel der um ihn herumstehenden Grotze zu zerdeppern – einfach des „Räspäkts“ wegen. Aber halt, war das in seinen Klauen nicht die Streitaxt? Der Schaft dieser großen Axt war mit unzähligen Talismanen behängt, und obwohl immens schwer, ließ sie sich mit unglaublicher Leichtigkeit schwingen. Er befühlte seinen Schädel und griff in den göttlichen Dung… und begann zu verstehen.
Er hatte eine Aufgabe!